Ausdrucksstark und leidenschaftlich bis zum Ende
„Du hast so einen roten Mund, Marie“ – Kurs Darstellendes Spiel zeigt an der AvH Büchners Woyzeck aus neuer Perspektive
LAUTERBACH (pm). „Es war ja zu erwarten, dass, wenn sich ein Kurs, bestehend aus lauter Frauen, des Woyzeck annimmt, so etwas dabei herauskommt“. Was Schulleiterin Gitta Holloch nach der Aufführung des Stückes „Du hast einen roten Mund, Marie“ in der Aula der Alexander-von-Humboldt-Schule meinte – und das voller Bewunderung -, das hatten zuvor die Familien der Darstellerinnen verfolgen können: Eine Reise in die Seele der Marie, die Woyzeck am Ende doch töten würde, eine 45-minütige Tour de Force, in der so viel Theaterkunst lag, so viel Leidenschaft und Kreativität, dass es den Zuschauern fast den Atem verschlug.
Die Geschichte des Soldaten Woyzeck ist bekannt: Mit seiner Freundin Marie und dem gemeinsamen Kind lebt er in ärmlichen Verhältnissen und versucht, den Lebensunterhalt für seine Familie mit Zusatzjobs aufzubessern: Er rasiert den Hauptmann und stellt sich für medizinische Versuche zur Verfügung. Damit einher gehen Erniedrigung und ein schleichender körperlicher und geistiger Verfall. Währenddessen beginnt Marie eine Affäre mit dem Tambourmajor. Woyzeck, gedemütigt und geistig mehr und mehr am Ende, hört Stimmen, die ihn auffordern, Marie zu töten.
An diesen schweren, oft gezeigten und genauso oft interpretierten Stoff machte sich der Kurs Darstellendes Spiel der Q4 unter der Leitung von Julia Speck. Dabei orientierten sich die Mitwirkenden bei der Bearbeitung und Interpretation natürlich an Georg Büchners Fragment, stellten aber die Figur der Marie in den Vordergrund: Wie konnte es geschehen, dass sie den Avancen des Tambourmajors nachgab? „Wir holten Marie in die heutige Zeit und setzten uns mit ihren verborgenen Wünschen auseinander: Sehnsucht nach körperlicher und seelischer Nähe, Aufmerksamkeit für sie als Frau und nicht nur als Mutter, der Wunsch eines gesellschaftlichen Aufstiegs“, erläutern sie ihren Ansatz.
Sie inszenieren vor einem sehr reduzierten Bühnenbild, geben den Protagonisten – die von verschiedenen Darstellerinnen gespielt werden – unverwechselbare Accessoires an die Hand: Marie schwingt ein rotes Tuch, Woyzeck trägt eine Schiffermütze. Die Ärzte sind durch Kittel zu erkennen, die Soldaten als rockerhafte Aufreißer gezeichnet. Die Inszenierung ist eine Mischung aus Sprech- und Tanztheater, auch die Dialoge sind reduziert, leben von Redundanzen und Laustärken und oftmals schierer Verzweiflung, die sowohl Woyzecks als auch Maries Grundgefühl zu sein scheint. Die Musikauswahl, mit der die Darstellerinnen ihr Stück begleiten, passt zu der Zerrissenheit der ganzen Situation: romantische Liebe, sexuelles Begehren, Wahnsinn. Der Mix aus all dem – subsummiert unter dem Begriff des Postdramatischen Theaters – erlaubt es den Schauspielerinnen, in die Innenwelten von Marie und Woyzeck vorzudringen: Wie fühlt sich Marie, wenn sie sieht, wie Woyzeck ihr immer fremder wird, wie er „hirnwütig“ seinen Halluzinationen folgt und gleichzeitig körperlich so abbaut, dass es sie ekelt. Wie fühlt sich Woyzeck, wenn er selbst merkt, dass ihm alles entgleitet, dass er eben nicht der freie Mensch ist, von dem die anderen sprechen, sondern zu Staub, Sand und Dreck wird? Marie spricht aus, was ihr fehlt: Sie fühlt sich nicht mehr aufgehoben bei Woyzeck, seine Nähe macht sie klein, während der Tambourmajor sie als Frau sieht, ihren roten Mund wahrnimmt, sie beschenkt. Und Woyzeck merkt, dass er Marie verliert, dass er nichts mehr tun kann, außer zuzuschauen, wie sie sich mit dem Tambourmajor dreht und wälzt und die Zuschauer spüren, dass er darüber endgültig verrückt wird. Starke Tanzszenen, laute Dialoge, irre Musik: Ausdrucksstark und leidenschaftlich spielen sich die Darstellerinnen auf das unausweichliche Ende zu, den Tod von Marie, die sich ein anderes Leben wünschte. Getötet von Woyzeck, für den das Gleiche gilt.
Am Ende des Abends war nicht nur die Schulleiterin begeistert von der Leistung der jungen Frauen – auch das Publikum hat die neue Sicht auf den alten Stoff sehr genossen. In ihrer kurzen Ansprache nach der Aufführung lobte Holloch ganz besonders der Einsatz der Gruppe, die es in Zeiten von Distanzunterricht schwer hatte, ihr Stück gemeinsam zu entwickeln und zu proben. Auch dass die Darstellerinnen nach dem Ende ihrer Schulzeit – sie alle hatten im Juni ihre Abiturzeugnisse bekommen – noch einmal zurückkamen, um ihr Stück aufzuführen, war Holloch einen besonderen Dank wert. Ebenso würdigte die Schulleiterin in ihrer Ansprache die Leistung der Fachlehrerin für Darstellendes Spiel. Julia Speck wiederum gab den Dank weiter an ihre Darstellerinnen und an die Schule, die ihren Schülerinnen und Schülern solche Erfahrungen wie die Erarbeitung und Aufführung eines Schauspiels ermöglicht und deren Horizont damit erheblich weitet. Mit Philipp Döll hatte sie außerdem einen Kollegen gewonnen, der die Tanzszenen choreografiert hat – eine außerordentlich gewinnbringende Zusammenarbeit.
Zum Abschluss der Veranstaltung erbat Julia Speck eine Spende – nicht für die Schule, sondern für die Corona-Nothilfe für Künstler. „Denn nicht alle haben wie wir das Glück, bereits wieder auftreten zu dürfen.“
Text und Fotos: Traudi Schlitt
Das Ensemble, links im Bild die Lehrpersonen Philipp Döll und Julia Speck.
Marie, die anderen Frauen und die vielversprechenden Männer begegnen sich auf dem reduzierten Bühnenbild.
Opfer der medizinischen Forschung wird Woyzeck aus Geldnot.
Zum Gespött der Mächtigeren macht Woyzeck sich durch seine Dienste.
Marie träumt – nicht nur von ihrem roten Mund.
Der Tambourmajor macht Marie schöne Augen und beschenkt sie.
Verzweiflung und Wahnsinn – eine Tanzszene unter dem Aspekt des Postdramatischen Theaters.
Julia Speck (Mitte) durfte sich über viel Anerkennung für sich und ihre Gruppe freuen.