Dass heute alle Menschen sich öffentlich versammeln dürfen, diskutieren dürfen, wählen und sich wählen lassen können, dass Frauen alle Ämter bekleiden können und Kinder jeder Schicht Zugang zu Bildung haben – all das, was heute so selbstverständlich ist, kam nicht von selbst. Für die Demokratie und ihre Errungenschaften, von denen man heute profitiert, brauchte es mehrere Anläufe in Deutschland. Einen der ersten wichtigen Meilensteine feiert Deutschland in diesem Jahr: Am 18. Mai 2023 jährt sich zum 175. Mal der Gründungsakt der ersten Demokratie auf deutschem Boden. Im Jahr 1848 versammelten sich in der Frankfurter Paulskirche die Mitglieder des ersten gesamtdeutschen Parlaments, um über eine freiheitliche Verfassung und die Bildung eines deutschen Nationalstaats zu beraten. In nur einjähriger Arbeit schufen die Abgeordneten das damals freiheitlichste, demokratischste und sozialste Verfassungswerk. Bereits im Dezember 1848 verabschiedete die Nationalversammlung die Grundrechte des Deutschen Volkes, die Bestandteil der Paulskirchen-Verfassung vom 28. März 1849 wurden. Diese erste demokratische Verfassung für Deutschland konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Die Nationalversammlung musste dem Druck der Reaktion nachgeben und tagte am 30. Mai 1849 zum letzten Mal in der Paulskirche. Ihre Ideen jedoch überdauerten die Jahrzehnte; nicht wenige Artikel der damaligen Verfassung finden sich in der heutigen, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.
Mit einem Blick auf diese Entwicklung stimmten Lena Krauß und Sibel Yildirim, Fachsprecherinnen Geschichte an der Alexander-von-Humboldt-Schule, vor wenigen Tagen die Schülerinnen und Schüler der Q2 auf einen interessanten Theatervormittag ein, der – den Abiturprüfungen geschuldet – im Saal des Posthotels Johannesberg stattfand. Ebenfalls eingeladen waren die Fachlehrkräfte im Fach Geschichte. Als einzigen Akteur begrüßten sie den Schauspieler Tino Leo, der die Zeit vor, während und kurz nach der ersten deutschen Demokratie in ein abwechslungsreiches, sage und schreibe nur 45 Minuten langes Stück gepackt hat: eine Auftragsarbeit der Hessischen Staatskanzlei, die der Histotainer, nebenbei auch Sprecher, Regisseur, Coach und Leiter der Schauspielschule Mainz, nur zu gerne annahm. „175 Jahre Paulskirche. Unsere Demokratie, deine Freiheit“, nennt die Staatskanzlei die Vortragsreihe, in deren kostenlosen Genuss fünfzig hessische Schulen kamen. „Dank unserer Schulleiterin Gitta Holloch haben wir uns rechtzeitig beworben und können unseren Schülerinnen und Schülern diese interessante Veranstaltung bieten“, freuen sich die Fachsprecherinnen.
Sein Stück hat Tino Leo, der dafür mehrere Monate lang recherchierte und das Ergebnis später von Historikern noch einmal überprüfen ließ, „Einigkeit und Recht und Freiheit“ genannt – die Grundfesten der Revolution von 1848/49, die sich bekanntlich in der Nationalhymne wiederfinden.
Als Adam von Itzstein erklärt Leo die Geschehnisse: Der Freiheitskämpfer der ersten Stunde und Abgeordnete der Paulskirchenversammlung ist auf der Flucht, gesucht wegen Hochverrats. Im Lauf seiner Erzählungen nimmt er die Zuschauer mit auf seine Reise durch den Vormärz und zur Revolution von 1848/49, die geprägt ist von Hoffnung, Aufbruch und Enttäuschung. In zehn historisch verbriefte Rollen schlüpft der Schauspieler auf seiner spärlich eingerichteten Bühne. Fast alles, was sein Publikum wissen muss, legt Leo in sein Spiel, in seine Sprache, in Andeutungen und Anspielungen. Er startet im Jahr 1815, als Fürst von Metternich den Wiener Kongress eröffnet und Klarheit darüber schafft, was der Untertan darf: nämlich nichts. Von den Ideen der Französischen Revolution ist wenig übrig. Und während der Bürger sich der Zufriedenheit des Biedermeier ergibt, haben die anderen „nix zu fressen.“ Leo nimmt das Publikum mit auf das Hambacher Fest, wo über 32 000 Menschen aller Schichten ihr Verständnis von Einheit, Freiheit und Gleichberechtigung diskutieren. Ein Fest, weil Versammlungen von der Obrigkeit verboten sind. In dieser Zeit entsteht der Wunsch nach Strukturen, die allen Menschen ein würdiges Leben ermöglichen, Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Bildungsfreiheit werden gefordert. Die einen wollen die Monarchie komplett abschaffen, schrecken auch vor gewaltvollen Plänen nicht zurück. Gemäßigtere streben eine konstitutionelle Monarchie an, wollen langsam, aber sicher vorankommen. „Das Lied der Deutschen“ entsteht, die Trikolore wird das Symbol der Freiheitskämpfer. Allen Mitwirkenden – vom Preußenkönig Friedrich IV. über den Demokraten Friedrich Hecker und Menschen aus der Mitte des Volkes – widmet Leo kleine Sequenzen: Sie alle erleben diese Jahre auf ganz unterschiedliche Weise, ob in Berlin, Wien oder Frankfurt. 1848 schließlich werden die Kräfte des Volkes in vielen Teilen Europas wieder stark; im großdeutschen Reich werden freie Wahlen möglich, wobei immer noch ganze Bevölkerungsschichten, beispielsweise Frauen, ausgeschlossen sind. Doch auch sie sind als Straßenkämpferinnen und Mitdenkerinnen an der Entwicklung beteiligt, wie Leo in einer Sequenz beschreibt.
Obwohl die Gedanken gut waren, fehlt letztendlich der Rückhalt in der Bevölkerung, die zu großen Teilen arm bleibt und wenig Interesse für Politik aufbringt. Durch die verschiedenen Interessen – und nicht zuletzt durch die Macht der Fürsten und die Weigerung des Königs, nicht mehr König von Gottes Gnaden, sondern von Volkes Gnaden zu sein – kommt die Freiheitsbewegung ins Wanken und die alten Mächte gewinnen wieder die Oberhand. Die Revolution ist vorbei. Doch ihre Gedanken bleiben.
Wie im anschließenden Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern deutlich wurde, gelingt es dem Theaterstück als andere Form der Wissensvermittlung, nachhaltig die Geschehnisse rund um die Paulskirchenverfassung zu erklären und im Gedächtnis zu erhalten. Sie betonten, dass diese ganz besondere Wiederholung des Unterrichtsstoffs der Q1 sehr hilfreich war. Besonders interessant sind dabei Leos Zeitsprünge, die immer wieder auch die Gegenwart in Bezug zu den damaligen Geschehnissen setzen und somit den Blick dafür schärfen, wie zum einen das Geschehen vor 175 Jahren in die heutige Zeit wirkt, und zum anderen, wie erkämpft und schützenswert eine Demokratie ist. Von großem Interesse für die Schülerinnen und Schüler war auch der Akteur selbst: Sie stellten Teo Lino viele Fragen zu seinem Werdegang und seiner vielfältigen Arbeit als Kulturschaffender. So war dies für alle Beteiligten ein Vormittag mit einem Ausflug in die Geschichte und ganz vielen Bezügen in die Gegenwart.
Text: Traudi Schlitt